Lust auf eine Portion Todesangst, Fahrtwind und Massendrängeln? Du wolltest schon immer mal auf einen fahrenden Zug aufspringen und dann mit 20 Menschen gleichzeitig auf einem Quadratmeter stehen, während dieser Quadratmeter dann mit gut 70 Sachen an einem tiefen Abgrund entlangrast? Dann komm nach Mumbai! In dieser indischen Megametropole am Arabischen Meer wird all dies zum günstigen Festpreis von 10 Rupien (ca. 11 Cent) geboten! Und für Fortgeschrittene: Reise am besten mit unhandlichem Reiserucksack an, die einen noch intensiveren „Eindruck“ (in den unteren Rücken) geben! Für Westler gibt es gratis Blicke, so viele wie du willst!
Bei unserem Aufenthalt in Mumbai hatte eine wundervolle Couchsurfer-Gastgeberin uns zu sich nach Hause in einen der vielen Vororte eingeladen. Um von unserem Fernbahnhof dorthin zu kommen, gab es ziemlich genau zwei Möglichkeiten. (A) sich einmal komplett über den Tisch ziehen zu lassen im Rikscha-Game (been there, done that!) oder (B) für einen günstigen Preis eine der berüchtigten Local Trains zu nehmen. Für uns, die sich mit zwei indischen Zugreisen schon zu den Train Experts zählen, natürlich keine Frage. So schlimm kann es doch nicht sein, Ticket kaufen, in den Zug steigen, bei Maps die Linie mitverfolgen, an der passenden Station aussteigen… Mensch, waren wir naiv.
Der digitale Zugreiseführer Seat61 beschreibt das indische Bahnfahren in versucht aufmunternder Weise: „Bilder von überfüllten indischen Zügen mit Menschen, die auf dem Dach sitzen oder sich an den Seiten festklammern, kann man getrost vergessen. Diese Fotos zeigen eher die Local Trains und nicht den modernen Fernverkehr.” Sehr gut, also alles zivilisiert und gutbürgerlich, außer in den Local Tra… Local Trains? Gerade die wollen wir doch nun nehmen?
Okay, aber wir sind ja nicht in Delhi, Indiens größter und Hauptstadt. Über den Bahnverkehr in Mumbai sagt der Lonely Planet Reiseführer Folgendes: „Mumbais Zugnetz der Local Trains ist eines der verkehrsreichsten der Welt. Denken Sie gar nicht erst daran, zu den Stoßzeiten (7 bis 11 Uhr und 16 bis 20 Uhr) die Bahn zu nehmen.“
Um 19:30 Uhr stiegen wir erschöpft, aber neugierig an der Vasai Road Station nördlich von Mumbai aus unserem Fernzug aus. 23 Stunden lang hatten uns zwei sehr aktive Kinder bestiegen, angeschrien (auf Hindi) und betätschelt, unterbrochen lediglich durch eine kleine Kotzrunde und eine sehr kurze Schlafpause. Es half nicht, dass die dazugehörigen Eltern teils schwanger, teils eigentlich ganz woanders ihre Reservierungen hatten, sich aber trotzdem selbstverständlich zu uns setzten, sodass wir kuschelig zu siebt (+ 2 Kinder) in einem Kompartment saßen, das eigentlich eher für vier bis sechs Leute ausgelegt war. Zwar war das Äußere unseres Zuges im wohlbekannten Rot und Weiß der Deutschen Bahn gestrichen und auch am Hamburger Hauptbahnhof habe ich einige Passagiere auf dem Boden sitzen sehen. Das war jedoch das einzige, was vergleichbar mit Deutschland war. Hier an der Vasai Road Station jedoch haben Familien auf den Plattformen gekocht, Leute stiegen ständig in das Gleisbett (ist ja schließlich eine super Abkürzung) und wir wurden angeglotzt, als wären wir Bollywood-Stars.
Es stand uns noch eine kurze Strecke in einem Local Train bevor, dann noch eine kurze Taxifahrt und wir wären frischgeduscht und glücklich im weichen Bett im Gästezimmer der Couchsurferin. Falsch gedacht! Die Zugtickets waren schnell geholt, wegen des günstigen Preises haben wir uns doch überhaupt erst darauf eingelassen. Als wir die Treppen zum Gleis heruntergingen, fuhr gerade ein Local Train ab. Die Türen waren offen, Leute hingen am Gestänge, halb im, halb außerhalb des Zuges, während noch weitere Inder sich durch die blockierenden Menschen in den anfahrenden Zug hineindrücken wollten. Wir haben gezählt: Nach circa sieben seitlich in der Tür stehenden Körpern ist Schluss und es wird allgemein akzeptiert, dass der Waggon voll ist. Die restlichen Menschen, die nicht mehr auf den fahrenden Zug aufspringen konnten (was für Loser), warteten nun auf den nächsten Zug mit uns. Zum Glück erschloss es uns schnell, dass unser Local Train aus der Gegenrichtung kommen sollte. Er war zum Glück nicht so voll, wir stiegen schnell ein und die Fahrt blieb bis auf das Geglotze sogar ereignisarm. Es war bereits nach 20 Uhr und wir waren wohl zu spät für den Thrill gekommen.
Das Innere des Zuges war mit kaltem Metall ausgestattet, Ventilatoren aus der Zeit der Erfindung von Ventilatoren bliesen fragwürdige Gerüche auf einen hinab. Eine Klimaanlage hält man in Mumbai, wo es mittags dann so 40 Grad warm wird, nicht für notwendig. Konnten wir nachvollziehen, die offenen Türen haben ja auch genug Fahrtwind hineingeblasen. In Mumbai kommen traurigerweise jedes Jahr etliche Menschen in den Local Trains um, in denen sie aus den offenen Türen gedrückt werden oder sich nicht halten können. Eine gruselige Atmosphäre.
Die Türen werden extra aufgelassen, damit der Ein- und Ausstieg schneller vonstattengeht. Sobald der Zug sich einer Station nähert, fängt die Masse an Körpern an, sich vorzubereiten. Die einen wollen raus, die anderen wollen weiter rein in den Zug, um nicht rausgedrückt oder erdrückt zu werden. Die Taschendiebe wollen aktiv werden. Sobald der Zug den Anfang des Gleises erreicht, springen bereits die ersten Geisteskranken heraus. Und die sind eigentlich noch gut bedient, denn nur kurz später fangen die ersten Passagiere auf der Plattform an, sich IN den Zug zu pressen. Die Türen sind zwar groß. Wenn jedoch acht Leute gleichzeitig ein- und acht Leute aussteigen wollen, und dahinter weitere Reihen nachdrücken, und in der Türmitte passend noch eine Metallstange ist, die alles noch komplizierter macht, will man wahrlich nicht in diesem Mahlstrom um sein Überleben kämpfen. Und zur Information, der Zug hat zum Zeitpunkt des Gedrängels noch mindestens Schrittgeschwindigkeit.
Sobald sich dann der erste Druck gelöst hat, wird dann nur noch von außen hineingeschoben, der Zug steht mittlerweile. Während schon an der Station davor das Maximum der Physik ausgetestet wurde, wird mit jedem Halt noch einmal mehr versucht, den Weltrekord an Personen/Fläche zu erhöhen. Die unbekannten Helden sind jedoch die Seelen, die an der gegenüberliegenden Tür am Abgrund den Laden zusammenhalten und sich als Menschenpropf formieren, dass niemand dort in die Gleise fällt. Es ist definitiv eines der faszinierenderen Menschenmengenexperimente, die wir auf unserer Weltreise mitbekommen haben.



Am Folgetag wollten wir unser Schicksal noch einmal herausfordern und fuhren, dieses Mal in der Rucksacksparversion (nur mit Kameratasche und Bauchtasche) Richtung Innenstadt und der Sehenswürdigkeiten. Mumbai ist eigentlich eine langgestreckte Insel, wobei ganz an der Spitze das Gateway of India und der Hauptbahnhof gebaut sind. Das Zentrum ist etwas oberhalb, trotzdem noch am letzten Ende dieses Zipfels. Die Vororte erstrecken sich über etliche Kilometer und Fahrstunden in den Norden. Zwei Bahnstrecken (aufgrund der Inselgeografie nur in den Norden) bringen die 18 Millionen Mumbaianer an ihren Arbeitsplatz, zum Cricket oder ins Grab. Kein Wunder, dass es manchmal etwas voller wird.
Wir starteten unseren Local Train Tag Zwei mit einem Fauxpas. Glücklich, ohne langes Warten in die nächste Bahn gehüpft zu sein, schaute ich mich um… und sah nur verwirrte Frauen. Ein ziemlicher Unterschied zum Vortag. Wir waren im Frauenabteil gelandet. Schnell wieder raus. Zug fährt ab. Mist, wir sind noch nicht so trainiert zum Fahrenden-Zug-Anlaufen. Im nächsten Versuch im nächsten Zug fanden wir sogar Sitzplätze und kamen ohne Zwischen- (und Heraus-)fälle bis nach Churchgate.
Am letzten Tag sollte es noch einmal eng werden. Wir hatten unsere Weiterfahrt im Fernzug von dem berühmten Victoria-Terminus im Herzen Mumbais gebucht, UNESCO-Weltkulturerbe. Dafür mussten wir noch ein letztes Mal mit dem Local Train dorthin fahren, dieses Mal wieder gut bepackt mit unseren Backpacks. Es war Sonntag und einige Züge streikten, deswegen war unsere Auswahl limitiert. Leider hatte unsere Abreise sich etwas herausgezögert, sodass wir nur vier Minuten vor unserer Abfahrtzeit an der Bahnstation ankamen. Treppen hoch, sechs Leute am Ticketschalter aus dem Weg räumen, kurzer Sprint in Flip-Flops über den rutschigen Vorhallenboden, Gleis suchen, unser Zug stand schon, die Türen bereits vollgestopft mit indischen Körperteilen. Wird das unser Moment, auf den wir so sehnsüchtig gewartet hatten? Einmal auf einen anfahrenden Zug aufspringen?
Ja! Ich war Leah voraus, schon am Treppenende angekommen, sah eine Lücke, nahm Blickkontakt mit den Indern in der Tür auf. Erst ungläubig, aber dann nickten uns die Türsteher zu: Wir könnten es schaffen. Zwei Meter vor Erreichen der Tür, fuhr der Zug an. Wir beschleunigten, ich gab Leah ein Zeichen, sie soll als erstes aufspringen. Sie schaffte es, ich hinterher. Wir klatschten ab und es gab einen kurzen Applaus der mitfahrenden Gesellschaft. Freudig winkten wir in die glotzende Menge, wir haben Mumbais Local Trains überstanden – jetzt kann uns nichts mehr halten!
Wieder eine super Reiseberichterstattung, amüsant und informativ, oder doch eher besorgniserregend?! Indien authentisch und hautnah, … im Zug wohl viel, viel zu nah!
No comment on this post. I’m still on my knees, praying! Lol. I was in Mumbai in 1974., maybe there are more people now or maybe the trauma has been erased from my memory!