Ich habe Wandern immer gehasst. Als wir noch Kinder waren, waren die Worte „Wir gehen Wandern, Kinder“ eine hinterhältige Formulierung für „Wir reißen euch die Spielsachen weg, stecken euch in einen stickigen Van und fahren so lange Serpentinen, bis euch das Frühstück wieder rauskommt“. Auf den mir ewig lang vorkommenden Wanderungen war es wirklich so eine Angewohnheit meiner Eltern, ohne Ausnahme bei jeder existierenden Wegeskarte stehenzubleiben und sie eingängig zu studieren. Und bei jeder Kurve, jedem noch so kleinen Ausblick wurde die Kamera gezückt, Probefoto, ein paar Einstellungen geändert, weitere Klicke vom Auslöser und das obligatorische „Guck mal, wie schön das Bild geworden ist“, wo man dann auf einen viel zu kleinen Bildschirm schaute, und sich anhören musste, wie scharf die neue Kamera Fotos mache. Dazu gab es immer irgendwelche blöden Kekse, die mir nicht schmeckten. Also, was haben wir vier Geschwister als Zeitvertreib gemacht? Uns gestritten. Immerhin war ich stärker als meine Schwestern.
So viel sind wir rückblickend in unseren Urlauben gar nicht gewandert. Durch unseren Widerstand konnten wir es meist auf 1-2 Spaziergänge pro Urlaubswoche herunterbrechen. Die besten Wanderungen waren eigentlich immer die, wo wir zuhause bleiben durften (und uns dann allerdings ebenfalls gegenseitig ordentlich die Köpfe einschlugen).
Irgendwann war ich alt genug, nahm reiß aus von zu Hause und bereiste die Welt. Während dieser kleineren und größeren Trips bin ich eigentlich nur Wandern gewesen, wenn ich mit irgendwem unterwegs war, der das dann vorgeschlagen hat.
Jedenfalls habe ich das Wandern an sich selbst nie hinterfragt, weil ich dachte, dass praktisch jeder um mich herum gerne wandert. Selbst meine Geschwister sind mir in den Rücken gefallen und begingen bald sämtliche Mehrtageswanderungen am anderen Ende der Welt oder in Deutschland. Bin ich denn der einzige, dem Wandern so gar keinen Spaß bringt?
Glücklicherweise waren die meisten meiner sportlichen Kommilitonen nicht sehr wanderinteressiert. Unsere Wandererfahrungen limitierten sich auf den Weg zum Dönermann (der hatte nervigerweise keinen Lieferservice und die Busse fuhren nur jede Stunde) und den Heimweg vom Club, wenn wir die letzte Bahn verpasst hatten.
Nachdem ich Leah kennengelernt habe, gab sie erst einmal vor – wie alle Menschen (außer meine Studi-Freunde) – auch gerne zu wandern. Besonders unsere Weltreise sollte scheinbar ihr Höhepunkt der Wanderlust, die Erfüllung ihrer Wanderpersönlichkeit werden, so kam es für mich in der Planung herüber.
In der Vorbereitung unserer Reise kam ich mit mehreren Leuten ins Gespräch. „Wir würden nie im Leben Wandern, aber ihr seid ja so richtige Outdoor-Leute oder?“ Hmm, waren wir das? Ich habe verneint, schließlich gefallen mir auch Städte und Stadtparks und ich bin immer froh, nach 2-3 h in der Natur wieder in der „Zivilisation“ zu sein und mir kein schlecht gewürztes Essen auf einem Campingkocher machen zu müssen.
So oder so, mir wurde klar, mit je mehr Leuten ich sprach, dass es anscheinend doch nicht für selbstverständlich ist, Wandern zu mögen. Selbst Leah erzählte mir irgendwann, sie sei als Kind auch nicht auf Wanderwegen gezerrt und hat vor zwei Jahren selbstständig und aus eigenen Stücken (oh Gott, was ist ihr in der Zeit zugestoßen?) entschieden, Wandern zu mögen. Man, warum habe ich das alles nicht verhindern können… So eine übertriebene Wanderfanatikerin ist sie also gar nicht und für sie sind die Wanderungen eher Mittel zum Zweck, um an schöne Ecken zu kommen.
Viele meiner Freunde, Bekannte, selbst Leah minus zwei Jahre: Ein größerer Teil der Menschen geht anscheinend doch nicht wandern. Aus dieser Erkenntnis habe ich Hoffnung geschöpft und war anfangs sehr gegen Leahs Wandervorschläge. Also habe ich auf meine Waffen der Kindheit zurückgegriffen, auf den ersten Hikes schlechte Laune geschoben und versucht, jegliche gute Stimmung zu verhindern. Leah hielt es aber nicht ab. Als ich in den USA gemerkt habe, dass ich dadurch nicht weiterkomme, habe ich langsam akzeptiert, dass wir im gleichen Boot sitzen (bzw. den gleichen im Wanderschuh tragen) und angefangen zu überlegen, wie ich mich motivieren könnte. Auf folgende Punkte bin ich gekommen:
- Fortschritt verfolgen: Es gibt tolle Apps wie Komoot, Alltrails oder auch Strava, wo man existierende oder eigene Wanderrouten laufen kann, damit man immer genau weiß, wie weit das Ziel noch weg ist und wann diese blöde Steigung endlich vorbei ist. (Obwohl meine Schwester und ich immer noch auf Komoot sauer sind, da die App offensichtlich nicht ganz akkurat mit ihren Steigungsmetern ist, „Nur noch 50 Meter“… ja ja.)
- Gute Ausrüstung: Es gibt perfekt ausgestattete Profis mit Stöcken, Wasserschläuchen, die aus ihren Lightbags hängen, während das Funkgerät sie über die aktuelle Wetterlage informiert. Dann gibt es immer noch nützlich gekleidete Menschen mit Wanderschuhen, einem Erste-Hilfe-Paket und genug Wasser. Und dann gab es mich. In kaputten Turnschuhen, wahlweise bei warmem Wetter in komplett verschwitzten Jeans oder bei Schnee und Kälte in kurzen Sporthosen und einem natürlich viel zu schwerem Rucksack, in dem aber nichts Nützliches zu finden ist. Aber ich habe nun eine Wanderhose, der man – die beste Erfindung seit dem Feuer – die unteren Stücke abzippen und zur kurzen Hose konvertieren kann. Außerdem teilen Leah und ich uns ein Backpack, den besser sie packt (reicht ja, dass ich ihn trage).
- Leckerer Gipfelsnack (oder Shirt): Hier sind wir zwar noch nicht perfekt, da Leah oftmals doch noch heimlich meine leckeren Süßigkeiten mit irgendwelchen Vollkornkeksen austauscht. Aber falls ich sie erwische, und sie alles wieder zurückräumen muss, ist eine kleine Belohnung für die Bewältigung des schwersten Abschnitts ein Muss. Alternativ wurde uns gesagt, dass auch ein trockenes Gipfelshirt nice sein kann – ich habe es aber noch nicht umsetzen können, da ich beim Umziehen auf einem Gipfel entweder erfroren wäre, oder das neue T-Shirt ebenfalls sofort durchgeschwitzt hätte.
- Musik ist erlaubt bei harten Strecken: Ich habe es schon mehrfach geschafft, bei den Anstiegen einen Bluetooth-Kopfhörer in meinem von Leah abgewandten Ohr zu schmuggeln, sodass ich deutlich motivierter die Berge hochhüpfe. Irgendwie hat sie es dann aber doch oft gemerkt, liegt es an meinem lauteren Schnaufen, das ich dann nicht mehr höre? Oder dass ich nicht mehr antworte? Oder sie angeblich den weißen Knopf im Ohr schon gleich zu Beginn gesehen hat, obwohl ich mich immer gut weggedreht habe?
Diese Tipps helfen mir, mich bei den Wanderungen zu motivieren. Was aber auch hilft, ist die Erfahrung, die wir uns über die Monate nun aufbauen konnten. Gros Morne in Neufundland, in den Wolken in den kanadischen Rockies, Schwitzen in den Nationalparks der USA, die hochgelegenen Anden, und der Endgegner Patagonien. Mit jedem Mal wurde ich entspannter mit den Distanzen, Höhenmetern und Schwierigkeitsgraden. Letztens haben wir dann auch unsere erste Mehrtageswanderung vollbracht. Auch wenn ich gesundheitlich etwas zu kämpfen hatte, war diese vorher unvorstellbare Hürde des menschlich Möglichen am Ende eigentlich sogar entspannter, da man mit mehr Zeit kürzere Strecken geht – und im besten Fall zum Ende des Weges eine urige Almhütte einen mit einem frisch Gezapften erwartet.
Was bringen einem nun die vielen Kilometer, Ausblicke und Steine in den Schuhen? „Man ist der Natur näher.“ Aber ich bin doch gar kein Outdoor-Mensch, schaue mir die Welt lieber auf dem TV an und würde mich am ehesten als Naturbanause bezeichnen.
Aber nach all den Wanderungen muss ich doch zugeben, dass an dem „im Einklang mit der Natur sein“ von dem Thoreau, Emerson und co. immer schwafeln, irgendwas dran ist. Ich habe zwar ein offensichtliches Loch in dem Teil des Gehirns, in dem jegliche Flora und Fauna-Namen abgespeichert werden sollten und konnte noch nicht nachvollziehen, warum Leah unbedingt bei jedem landenden Haussperling zehn GB unseres kostbaren Speicherplatzes verschwenden muss.
Aber diese Fotopausen sind vielleicht ganz gut investiert. Schließlich verbringen wir Zeit an wunderschönen Orten, können uns herunterfahren, und anfangen, die Umgebung beim Wandern zu respektieren und sie näher kennenzulernen.
Aber die vielen unterschiedlichen Ausblicke, die Artenvielfalt der Tiere und Pflanzen und die eindrucksvolle Geologie, die unvorstellbare Naturformationen, lassen einen klein und unbedeutend wirken und einem das Gefühl geben, dass man die Welt vielleicht doch nicht allzu schnell zerstören sollte.
In diesem Punkt ist Wandern aber auch etwas ambivalent, da man einerseits das Gefühl entwickelt, sich der Natur unterzuordnen, aber gleichzeitig auch ein Überwinden der Widrigkeiten, Anstiegen und einem Streben nach höher, schneller, weiter.
Nun laufen wir am Ende der Welt zu den Torres del Paine (sie machen ihrem schmerzlichen Namen alle Ehre) hoch und werden am Ende des Tages über 22km in den Beinen haben. Ich motiviere mich, mit diesem Hike „Südamerika abgeschlossen zu haben“ – Leah hat versprochen, dass es die letzte Wanderung in Patagonien ist – und ganz tief im Inneren freue ich mich eigentlich schon wieder auf die nächste Wanderung, wo auch immer sie sein wird… (aber psst, nicht an Leah weitersagen).
Lieber Sönke, ich hoffe Leah hält sich an ihr Versprechen, aber ihr seid ja noch einige Tage in Patagonien. Mal schauen was ihr da doch noch einfällt. Ich bin schon gespannt, ob du nicht doch nochmal deine guten Wanderturnschuhe schnüren musst.
Ganz liebe Grüße Jasmin
Torres del Paine – grandios.
Danke für den tollen Bericht.