Wir sind in Neufundland, dem östlichsten Punkt Kanadas und Nordamerikas. Hier beginnt der Trans-Canada-Highway, einer der längsten Highway-Systeme der Welt, nur der Pan American Highway (schummelt, weil Darien-Gap), der australische Highway 1 (schummelt, weil Kreis) und der Trans-Siberian Highway (nagut, die Russen haben gewonnen) sind noch länger. Aber was machen wir bitte hier am Anfang einer 7,500km-langen Straße (ich habe mal auf Maps geschaut, mit 7.500km Luftlinie kommt man von Flensburg nach Alaska, oder nach Peking oder gerade so nicht an die Küste Brasiliens) und warum hebt Leah gerade vorsichtig ihren Daumen in die Höhe? Wir möchten uns einer ultimativen Herausforderung stellen und Kanada per Anhalter durchqueren. Dabei wandeln wir etwas auf den verwindeten Spuren meiner Vergangenheit, als ich nach meinem Abitur einmal bereits durch Kanada getrampt bin.
Uns stehen die zehn Provinzen Kanadas bevor, mindestens 90 Autostunden und wer weiß wie viele Wartestunden am Straßenrand. Leah ist noch nie getrampt. Ich frage mich, wieso sie dem überhaupt zugestimmt hat. Jetzt ist es jedenfalls zu spät, sich das noch anders zu überlegen, Mietwagen sind keine mehr verfügbar und öffentliche Verkehrsmittel gibt es in Neufundland nicht wirklich. Jetzt stehen wir hier, die Sonne knallt jetzt schon und wir ergeben uns vollständig unserem Schicksal.
„Celebrate the starting point of the greatest of all Canadian adventures, the Trans-Canada Highway. Safe Travels!“
Mile Zero Infotafel in St. John‘s, NL
Warum tun wir uns das an und fahren per Anhalter? Früher, also die Zeit bis zu den 90ern, hatte noch nicht jeder ein Auto und „Hitchhiking“ war üblich und weitverbreitet. Viele Menschen, auch in Deutschland, haben mit ihrem Daumen und nur leichtem Gepäck kurze oder lange Strecken mit Autos gemacht, die sie mitgenommen haben. Was ist dann passiert, dass Hitchhiking so einen Rückgang erlebte und ein schlechtes Image bekam? Ist die Welt seitdem krimineller geworden? Wenn man ein bisschen recherchiert, kommt man immer wieder zurück auf einen Punkt: Anstatt dass Hitchhiking wirklich gefährlicher oder unsicherer wurde, sind vielmehr die Leute einfach ängstlicher geworden, fremde Menschen mitzunehmen. Es scheint wohl auch PR-Aktionen der Automobilindustrie gegeben haben, die ihren Teil zu der Verängstigung beitrugen. Denn Hitchhiking ist schlecht für das Autogeschäft. Tatsächlich wurden gerade in Kanada staatliche Informationskampagnen gestartet, die vom Mitnehmen von Anhaltern abgeraten haben. Aus Sicht der Wirtschaft und der Sicherheit auf der Straße macht es ja auch Sinn. Auf der anderen Seite haben ja so einige Regulierungen und Trends nicht gerade dazu geführt, dass die Gesellschaft zusammenwächst sondern einen Lebensstil beworben, der nicht mehr so sehr auf einer funktionierenden Gemeinschaft aufbaut. Die Konsequenzen Jahrzehnte später sind social anxiety, Einsamkeit, Rückgang von Vertrauen und Zuflucht in Extremismus.
Wir sind zunehmend auf unseren eigenen Vorteil fokussiert, es geht um sich selbst, vielleicht noch seine Familienmitglieder und Freunde, denen man noch hilft. Andere Menschen um einen herum werden nur noch nervige Objekte, die seinem persönlichen Glück im Weg stehen. Ich finde den Begriff Entmenschlichung passend, der mir sehr gut mein eigenes Denken verdeutlicht, wenn ich mich mal wieder über andere Menschen aufrege. Zum Beispiel, wenn jemand mich auf der Straße schneidet oder jemand bei der Arbeit zu viele Fragen stellt, dann betrachte ich diese Person mehr als Objekt, der meinem persönlichen individuellen Wohlbefinden im Wege steht. Dabei übersehe ich, dass Menschen Gefühle und Befindlichkeiten haben, die sie leiten. Ich selbst bin dann wahrscheinlich für andere auch nur ein Objekt, dass aus dem Weg geräumt werden muss?
Zurück auf der Straße: Hoffentlich werden wir nicht wortwörtlich aus dem Weg geschoben, sondern können unsere Mission erfolgreich starten, dem Image von der Gefährlichkeit des Anhalterfahren entgegensteuern und zeigen, dass Fremde nur Freunde sind, die man noch nicht kennengelernt haben (okay, das ist ein schmieriger Kalenderspruch)… zeigen, dass hinter jedem und jeder Fremden, wenn man sie nicht gleich entmenschlicht, eine interessante und komplexe Lebensgeschichte steckt, von der man selbst für sich lernen kann. Und man gleichzeitig auch ein wertvoller Ansprechpartner ist.
Reisen ist eine Schule für das Leben, und Hitchhiking noch einmal mehr. Es ist vor allem Lernen, abzuwarten, sich dem Schicksal vollständig übergeben, die Kontrolle abzugeben und nicht mehr alles steuern zu können. Wir begeben uns willentlich an einen Ort, von wo das spontane Glück fast unvermeidbar ist. Auch, wenn man an der Straße steht und ein Auto nach dem nächsten an einem vorbeifährt, dann kommen in einem zunächst Befürchtungen auf, man würde nicht mitgenommen werden, müsste dort übernachten oder im schlimmsten Fall die Reise abbrechen. Umso größer ist dann das Glück von aufblinkenden Bremslichtern, dem ersten Blick-Check im Auto, ob alles „normal“ aussieht (in Kanada: Tim Hortons Kaffeebecher im Getränkehalter und Eishockeyschläger auf der Rücksitzbank) und die Dankbarkeit über jeden einzelnen Kilometer, den man nicht gehen musste.
Gleichzeitig lernt man, wie man sich mit den verschiedensten Leuten unterhält, sich auf unterschiedliche Humore einstellt, wie man deutsche Stereotypen versucht zu klären. Interessant ist, dass beim Trampen eine besondere Verbindung entsteht, da sich Hitchhiker und Fahrer eigentlich nicht kennen und sich wahrscheinlich auch nie wiedersehen, sie doch eine längere Zeit miteinander verbringen und etwas von sich preisgeben wollen. Insofern ist man als Hitchhiker meist ein besserer Ansprechpartner als bspw. gute Freunde, da man jemandem alles Mögliche anvertrauen kann – man sieht sich ja eh nie wieder. So hört man alle möglichen Lebensdramen, Business-Ideen und was einem sonst so durch den Kopf geht. Man selbst ist natürlich auch nicht unschuldig und trägt seinen Teil Stuss zu der Konversation hinzu.
Wir sind also auf der Mission, das schlechte Image vom Hitchhiking herauszufordern und zu prüfen, und dabei schnell und budgetfreundlich durch Kanada zu reisen. Unsere Challenge ist es, ohne Geld vom Atlantik bis zum Pazifik zu kommen. Wir starten in St. John’s, Neufundland, und enden irgendwo am Pazifik. Wir haben kein Budget für Fortbewegung und Unterkunft verfügbar. Lediglich lokale Busse sind erlaubt (da Hitchhiking innerhalb von Städten echt nervig ist). Falls wir Geld geschenkt bekommen, können wir es aber für Fortbewegung und Unterkunft ausgeben, falls wir irgendwo mal steckenbleiben sollten. Wir haben sechs Wochen Zeit, dann will Leah nach Südamerika. Schaffen wir es?
Hallo Sönke u. Leah,
erstmal wünsche ich euch viel Erfolg bei dieser Challenge und frage mich, wie es denn so um die Verkehrsdichte in Neufundland (und auch später) bestellt ist… stündlich ein Fahrzeug🤔. Und kein Budget für Unterkunft🤔, also ausschließlich im Zelt bzw. vielleicht auch mal in der Koje eines freundlichen Truckers schlafen😉
Liebe Grüße
Denis
Hallo Denis,
Vielen Dank für deine liebe Nachricht und fürs Erfolg wünschen 😀
Also auf dem Highway kommen zum Glück schon die regelmäßig Autos vorbei, aber wir waren schon auf kleineren Nebenstraßen und dort kam dann teilweise alle 5min mal ein Auto. Aber wir meiden die ganz einsamen Straßen im Norden Kanadas, da kann man schon mal ein paar Tage stehen.
Haha mit dem Budget ist das so eine Sache, genau wir zelten (aber wenn wir auf einem Campingplatz sind, kostet es trotzdem ein bisschen Geld) und wir nutzen Couchsurfing, da kann man umsonst bei anderen auf dem Sofa schlafen 😴.
Liebe Grüße
Sönke und Leah
Ok, Couchsurfing hatte ich gar nicht auf dem Schirm, aber Update#2 zeigt ja, dass es damit bestens läuft…dann weiter so… LG