Als Kinder haben wir immer gerne Indianer gespielt, sind zu den legendären Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg gegangen (wir haben uns gefragt, woher sie für jede Vorstellung immer die neuen Schauspieler herhaben, da sie ja nach jeder Aufführung tot sein müssen) und haben die spannenden Geschichten über die australischen Aborigines („Crocodile Dundee“) und die Ureinwohner in der Kalahari („Die Götter müssen verrückt sein“ 1 und 2) aufgesaugt. Später im Leben war ich tatsächlich überrascht, dass anscheinend immer noch Nachfahren dieser „Filmhelden“ an verschiedenen Ecken des Globus leben.
Umso enttäuschter waren wir, als uns während unserer Reise in Kanada und woanders ein ganz anderes, problematischeres Bild aufgetischt wurde als aus den Filmen. Wir fuhren an einigen Reservaten vorbei, sahen Obdachlose „Natives“ vor den Spirituosenläden und bekamen einiges an Geschichten zu hören. Uns wurde gesagt, dass die Indigenen heutzutage ein sehr trauriges Leben führen würden, viele hätten Alkoholprobleme, wären gewalttätig, würden nur herumhängen, sich nicht anstrengen wollen und wir sollten lieber Abstand halten. Stattdessen könnten wir nach Touren schauen, die die „echten“ Traditionen noch einmal erlebbar machen. Die wären sowieso viel besser und authentischer. Diese Warnungen glichen sich in Nordamerika, aber auch auf dem Südkontinent, in Australien.
Wenn wir fragten, wieso es dazu gekommen ist, wurden die Schultern hochgezogen. Die Natives* seien von ihren Genen und der Kultur einfach nicht fähig, mit unserer zivilisierten Gesellschaft mitzuhalten, außerdem gäbe der Staat ihnen zu viel Geld, wovon sie dann gar nicht mehr arbeiten bräuchten, um sich ihren Alkohol zu besorgen.
Puh, harte Worte. Aber diese Meinung haben wir tatsächlich in ähnlichen Ausführungen zugetragen bekommen. Und, wenn wir ganz ehrlich sind, kann man als Tourist, der nur an Reservaten und Liquor Shops vorbeifährt (und sich ein leckeres Craft Beer herausholt), auch schnell so ein Bild der Lage bekommen.
Zum Glück haben wir noch andere Menschen getroffen. Zum Beispiel, als wir in Quebec von einer Innu-Familie mit indigenem Hintergrund mitgenommen wurden. Oder ein paar Wochen später, als uns eine Frau mit Traumfängern im Auto mitnahm, die auf dem Weg zu einem indigenen Kongress in Thunder Bay war. Oder auf unserem Roadtrip mit Brian in die Nordwest-Territorien, der selbst Jahrzehnte in den indigenen Communities als Schulleiter angestellt war. Von diesen Leuten, die sich deutlich mehr mit dem „indigenen Problem“ beschäftigt haben, bekamen wir eine andere Sichtweise zugetragen, die sich deutlich von den rassistischen Vorurteilen abgrenzte:
Klar, jeder lernt in der Schule, dass Kolumbus in Amerika auf „Indianer“ stoß, die schon seit Jahrtausenden auf dem Kontinent lebten. Die weiße Besiedlung Amerikas ließ viele Indigene hinraffen, von eingeschleppten Krankheiten bis hin zu Ausbeutungen, gebrochenen Handelsversprechen und alles, was sich so als Habgier zusammenfassen lässt.
Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. In den Anfängen des 20. Jahrhunderts kam der Staat Kanada auf die Idee, den Indigenen zu helfen, indem man die Kinder der Indigenen auf Residential Schools (Internate) schickte, damit sie lernen könnten, in der westlichen „zivilisierten“ Welt klarzukommen. Von den Priestern geleitet (nicht nur Katholiken betrieben die Schulen, sondern auch protestantische Kirchen der Anglikaner, Unierte, Pfingstbewegung) wurden Kinder aus ihren Familien entrissen, es wurde ihnen verboten ihre Muttersprache zu sprechen, sie wurden gezüchtigt, geschlagen und notfalls auch wochenlang in den Kerker gesteckt. Einige Kinder kamen nicht wieder zurück nach Hause. Und die, die wiederkamen, schwiegen. Zu groß war das Trauma, die Stigmatisierung, die Erlebnisse von Nötigung, Misshandlung und Unterdrückung. Und das alles wurde vom Staat und der Kirche gefördert, geleitet und die Missstände kleingeredet. Dies dauerte bis 1997, als die letzte der 130 Internatsschulen in Kanada in Rankin Inlet, NWT, geschlossen wurde.
Es tut weh, diese Paragraphen zu schreiben, trotzdem will ich dies noch einmal veranschaulichen. Man muss sich vorstellen, du wirst mit sieben Jahren eines Tages von zuhause abgeholt und in ein kaltes unpersönliches Internat gesteckt. Von heute auf morgen wird dir verboten, Deutsch zu sprechen, du darfst z. B. kein Fußball mehr spielen, keinen Kontakt zu deiner Familie haben und hast in der Schule nur noch Mathe und Chemie – und das jeden Tag! Kein Weihnachten, dafür andere komische Feste, zu denen du keinen Bezug hast. Das, was deine Familie und deine Nachbarn so im alltäglichen Leben machen, alle kulturellen Bräuche und historischen Ereignisse werden negativ konnotiert und einem ausgeredet. Und im Verlaufe der nächsten Jahre verlierst du vielleicht einen deiner Freunde auf dem Internat, der mit dem Druck nicht klarkommt. Wie kann einen so etwas nicht mental zerstören?
Auch wenn nicht jedes Kind diese schlimmen Erfahrungen auf den Residential Schools machen mussten (es gab wohl auch nette Erzieher…), war die Grundidee doch eine Entfremdung der eigenen Kultur und Vergangenheit, die eine tiefe Zäsur in der indigenen Gesellschaft hinterlassen haben. Auch in Amerika und Australien gab es ähnliche Maßnahmen der Entfremdung, allerdings in geringerem Ausmaß, da die Zahl der australischen Aborigines und Native Americans in den USA schockierenderweise schon vor dem 20. Jahrhundert viel stärker dezimiert wurde.
Die Aufarbeitung der Residential Schools in Kanada ist Teil der Tagespolitik aufgrund immer neuer ausgebuddelter Massengräber, verläuft dennoch eher schleppend. In Deutschland bekommt man von diesem kulturellen Genozid nicht viel mit. Wir schauen weiter Karl-May-Spiele und stolpern höchstens mal über betrunkene Natives auf den kanadischen Straßen im Mietwagen.
Ich brauche jetzt erst einmal eine Pause. Wir möchten gerne einen Film ans Herz legen, der kostenlos und frei empfänglich über Youtube zu schauen ist: Indian Horse (engl.). Basierend auf einer wahren Geschichte geht es um einen Jungen, der in einer Residential School aufwächst und über Eishockey die Möglichkeit auf ein anderes Leben hat. Wer lieber liest, der Film basiert auf dem Buch „Der gefrorene Himmel“ von Richard Wagamese.
Und im nächsten Teil wollen wir die heutige Situation der indigenen Bevölkerung thematisieren und diskutieren, wie mit den Problemen teilweise umgegangen werden kann.
*Okay, normalerweise machen wir in diesem Blog eine gute Stimmung und lassen ansonsten den Sarkasmus walten, aber hier muss ein Disclaimer hin. Die sogleich beschriebenen Einschätzungen sind extrem rassistisch, faktisch falsch und stellen in keinster Weise unsere eigene Meinung dar.
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